Vom Auszug der Schwalben

Rauchschwalben, Foto: Jan Gläßer

„Es dünke ihn überhaupt, die Schwalben seien zurückgegangen, das heiße, es gebe ihrer immer weniger. Wenn er denke, wie es früher gewesen sei: Da hätten zum Feierabend häufig zwei, drei, vier Telegrafendrähte in einer Länge von ungefähr 50 Metern, oder von Stange zu Stange eben, als Schwalbengirlanden vor ihrem Haus gehangen. Das Gezwitscher dieser Schwalben sei ihm dann ein Leben lang nachgegangen, und wo und wann er diesem begegnet sei, sei es immer ein Ereignis für ihn gewesen, …“
Gerhard Meier (1917-2008)

„Nicht nur die Schwalbe, auch die Fliege nimmt am Auszug der Tiere teil, bei dem der Mensch als selbst bedrängter Treiber wirkt. Er ist in den Vorgang verstrickt, durch den die Arten bedroht und eingezogen werden, daher die Weltangst und zugleich das Unvermögen, dem Schicksal Einhalt zu tun. Das ist im Ganzen zu fassen – mit der Zeit des Pferdes ist auch die des Reiters vorbei. Doch immer leuchtet ein Morgenrot auf Gipfeln, die nie von der Flut erreicht werden.
Der Anblick der winzigen Risse ist unheimlicher als der des Balkens, der zusammenbricht.“
Ernst Jünger (1895-1998)

Die beiden eindringlichen, sprachgewaltigen Beschreibungen sind etwa ein halbes Jahrhundert alt. Wir erleben also im Grunde nichts völlig Neues. Der Auszug der Tiere, wie ihn Ernst Jünger nennt, findet wohl heute in ähnlicher Form in weiten Teilen Europas statt und war damals eher noch harmlos im Vergleich zu dem, was derzeit da draußen vor sich geht. Genaue Zahlen gibt es zwar nicht, aber die Beobachtungen von Gerhard Meier können wohl viele von uns bestätigen und wie sollte es auch anders sein bei Insektenjägern wie den Schwalben angesichts des Rückgangs der Fluginsekten um 76 % in den letzten 27 Jahren (Krefelder Studie). Ohnehin trägt das Wort „Auszug“ wohl eher einen beschönigenden Charakter. So als würden die Tiere nur einen kleinen „Wohnungswechsel“ vornehmen, um dann in einer neuen, schöneren Heimat wieder Fuß fassen und neu „aufblühen“ zu können. Aber dem war schon damals nicht so und ist es heute erst recht nicht. Es ist eben eher ein Umzug ins Nichts, der sich da vollzieht. Die beiden Zitate beschreiben eine Art Vorspiel, einen leisen, allmählichen Auftakt zu dem Elend, dass sich heute flächendeckend in der Landschaft abspielt und sich immer mehr beschleunigt, nicht nur bei den Schwalben. Viele Feldvögel sind noch weit stärker betroffen und das ist mittels knallharter Zahlen auch belegt. Bestandsrückgang in der Europäischen Union von 1980 bis 2010: Rebhuhn -94 %, Braunkehlchen – 71 %, Wiesenpieper – 66 %, Star – 52 %, Feldlerche – 35 %. Insgesamt lebten in der EU 2010 300 Millionen Vögel weniger als 1980. Und die Situation ist im vergangenen Jahrzehnt keinesfalls besser geworden.
Das schnelle Verschwinden vieler einstiger Allerweltsarten, auch wenn es vorerst zumeist „nur“ auf lokaler oder regionaler Ebene stattfindet, ist heute von anderer Dimension als der eher noch moderate Rückgang zu Jüngers und Meiers Zeiten. Es hinterlässt nicht nur eine leise Trauer, Nachdenklichkeit und eine ungute Vorahnung, sondern schmerzhafte Lücken. Eine Verarmung der Welt findet statt, auch wenn wir das nicht so recht wahrnehmen und wahrhaben wollen. Veränderungen gehören zum Leben, das ist schon wahr, aber diese Rasanz, dieses Angst machende Tempo, das keinerlei Anpassungen mehr zulässt, dem die wenigsten Arten noch gewachsen sein können, das hat nichts mehr mit „Normalität“ zu tun, mit Kommen und Gehen im landläufigen Sinne. Dieses Tempo, wenn es so bleibt, lässt vielen Arten keine Chance mehr und ist auch für uns Menschen viel zu gewaltig. Wir verlieren die Übersicht und können nicht mehr steuern. Darüber sollten wir uns im Klaren sein und endlich auf die Bremse treten. Ein „Weiter so!“ und „Wir schaffen das!“ sind nur leere Floskeln, sonst nichts. Davon sollten wir uns nicht weiter beruhigen und einlullen lassen.

„Man fährt mit aller Kraft voraus – und will das Kielwasser verbieten.“
Peter Sloterdijk

Matthias Scheffler

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