Zum Gartentier des Jahres 2020
„Wenn die Märchen verstummen,
verdunkelt sich unser Lebensweg.“
Wolfdietrich Siegmund (1923-2018)
Manchem aus der jungen Generation ist der Igel vielleicht nur noch als berühmtester Wettläufer aller Zeiten bekannt. Nämlich aus Grimms wunderbarem Märchen „Der Hase und der Igel“, als listiger Konkurrent des pfeilschnellen Hasen, der sich bis zum wohlverdienten Tod vergeblich abmüht, den Igel nebst Gattin in ihre Schranken zu weisen und zu zeigen, wer die schnelleren Beine hat. Es ist schon ein wenig traurig, dass die Begegnungen mit den imaginären Helden der Märchen unserer Kindertage im wahren Leben, in Garten und Landschaft also, immer seltener werden. Sie geraten zunehmend in Vergessenheit und mit ihnen die Erinnerung an Zeiten, in denen die Märchenstunde vor dem Schlafengehen noch zum Alltag gehörte und die Tiermärchen noch einen realen Hintergrund hatten. Heutzutage geben andere Figuren den Ton an und das Märchenbuch hat den Wettlauf mit den modernen Medien vermutlich schon längst verloren. Man darf allerdings ein wenig träumen und die vage Hoffnung hegen, dass Hase und Igel – ähnlich wie der „böse Wolf“ – ein Comeback feiern, im Märchen und vor allem in der realen Welt. Wahrscheinlich ist das eher nicht. Beides.
All seine Schläue und Verschmitztheit haben dem stachligen Gesellen wenig genützt bei seinem Ringen fern aller Märchenbücher mit den Unbilden der modernen Welt, die ihm heute das Leben immer schwerer machen: Den Wettlauf über die Straße oder die Hindernisse bei den sonstigen Tätigkeiten, die ihm der Alltag gemeinhin so aufzwingt. Dieses Schicksal teilt er kurioser Weise, wie das Leben manchmal so spielt, mit „Feind“ Hase aus dem Märchenbuch. Das macht sie wider Erwarten zu Leidens- und Schicksalsgenossen, die nun in stiller Eintracht gemeinsam auf der Strecke bleiben.
Die Ursachen für die Talfahrt des Igels, der übrigens gerade von der Heinz-Sielmann Stiftung zum Gartentier des Jahres 2020 gekürt wurde, sind recht komplex und keiner weiß wohl ganz genau, was ihn am stärksten in die Bredouille bringt. Ohne Zweifel fordert der zunehmende Autoverkehr seinen Tribut. Aber aus strukturreichen Feldfluren mit Hecken, Feldgehölzen und Waldrändern (seinem eigentlichen bevorzugten Lebensraum, der ihm im Englischen zu seinem hübschen Namen hedgehog verholfen hat, zu Deutsch: Heckenschwein) hat er sich auch vorher schon merklich zurückgezogen und sein Heil vornehmlich im Siedlungsraum mit Gärten und Grünanlagen gesucht. Aber auch hier gehen ihm zunehmend die Puste und das Futter aus. Er liebt nämlich tierische Kost in Form von Insekten, wie Laufkäfer, Tag- und Nachtfalter, Wirbellose wie Regenwürmer und gelegentlich Schnecken, aber auch Spinnen, Vogeleier und kleine Säuger. Zum Vegetarier hat er wenig Talent. Außerdem fehlen ihm die Verstecke zum Rückzug. Er liebt stille Eckchen, in denen er den langen Winter verschlafen oder einfach ruhig dahindämmern kann, bevor er sich gegen Ende des Tages auf seine Beutezüge begibt, die immer zeitaufwendiger und gefährlicher werden. Kein Platz für das Heckenschwein also: Kein Misthaufen, kein Blatthaufen, kein Holzhaufen, keine Hecke, kein Strauch, die reine Rasenwüste eben. Und auch seine Freiheit hat man ihm erheblich genommen. Zäune und andere Hindernisse der kuriosesten Art stellen ihn vor unüberwindliche Probleme. Es könnte viel besser aussehen, wenn wir der Natur etwas mehr Raum zugestehen würden. Es gibt leider noch viel zu wenige naturnahe Gärten. Die Igel jedenfalls würden sich dankbar zeigen.
In den letzten Jahren kommt eine neue Gefahr hinzu, die von diesen merkwürdigen Wesen ausgeht, die man jetzt gewissermaßen als Ziegen- oder Schafersatz in vielen unserer Gärten ansiedelt und die unermüdlich, mit einer geradezu bewundernswerten Ausdauer, die Gegend unsicher machen: Mähroboter genannt. Nicht einmal in Dämmerung und Nacht geben sie Ruhe, wenn Freund Igel gemeinhin auf der Suche nach Nahrung oder zur Befriedigung anderer Gelüste unterwegs ist. Der weiß nun – welch ein Wunder – mit dieser seltsamen Gestalt, die weder bellt noch miaut, wenig anzufangen, beäugt sie erstaunt und verdutzt, ergreift nicht die Flucht, sondern rollt sich in gewohnter Weise zu einer Kugel zusammen und harrt der Dinge, die da kommen. Auf Solidarität und Rücksichtname seitens des fahrenden Ungetüms wartet er jedenfalls vergebens und trägt im Nahkampf oft schwere Verletzungen davon, die ihm nicht selten sein Leben kosten. Ähnlich ergeht es Schlangen, Kröten und Molchen, die sich versehentlich in die Arena gewagt haben. Kein Märchen wird hier vorgetragen, eher ein Horrorfilm aufgeführt. Ob unser Appell an die Rasen- und Technikfreaks Früchte tragen wird, das darf bezweifelt werden. Trotzdem können wir ihn uns nicht verkneifen: Nutzen Sie ihren motorisierten Rasenwärter wenigstens nur tagsüber. Besser: Stellen Sie ihn in die finsterste Ecke. Noch besser: Lassen Sie alles wachsen, setzen Sie sich in einen Gartenstuhl und lesen Grimms Märchen oder ein Buch von Hubert Weinzierl (s.u.). Freund Igel (und Co.) wird es in Ihrem neuen Garten gefallen und er wird Ihnen mit einem verschmitzten Lächeln oder einem Augenzwinkern seine Hochachtung zeigen. So schön können Märchen sein.
Ähnliche Dramen wie mit den Mährobotern spielen sich durch Laubsauger, Rasentrimmer und Motorsensen ab, die sogar unter Hecken und Büschen Tabula rasa machen. Jedenfalls geben uns diese eigenartigen Neusiedler in unseren Städten und Dörfern möglicherweise schon einmal einen kleinen Vorgeschmack auf die schöne neue Welt der Zukunft, in der uns statt Vögeln die Drohnen um die Ohren fliegen und die „Pflege-Roboter“ den Allerwertesten säubern werden. Igel und Hase werden diese Zeiten vermutlich eher nicht erleben. Man könnte fast versucht sein, sie deshalb ein wenig zu beneiden.
Dr. Luise Eichhorn, Matthias Scheffler
„Wenn man mich mit verbundenen Augen durch verschiedene Länder führte und mir hierzulande die Sicht freigäbe, wüsste ich sofort, warum ich in Deutschland bin: Weil nirgendwo eine so penetrante Ordnung in der Landschaft herrscht und nirgendwo die Gerade und die Sauberkeit so pervers zelebriert werden wie bei uns.“
Hubert Weinzierl