Beweidung als Rettungsanker gegen Artenschwund

Beweidung in Stützengrün, Foto: Matthias Scheffler

In den letzten Jahrzehnten ist viel versucht und probiert worden, wie man diesem rasanten Artenrückgang am besten begegnen könnte, der uns nun eigentlich schon seit geraumer Zeit die Sorgenfalten auf die Stirn malt. Denn die Situation wird immer prekärer. Trotz vieler Bemühungen im staatlichen und ehrenamtlichen Naturschutz schwinden die Arten dahin, besonders im Offenland. Man weiß es ja ohnehin, man braucht nur vor die Haustür zu treten, durch die Feldflur zu gehen oder mit dem Auto durch die Landschaft zu fahren und die Bilder von heute mit denen von vor wenigen Jahren zu vergleichen. Die sauberen Autoscheiben sind dafür ein beredtes, trauriges Zeugnis. Wenn man dann noch die erschreckenden Zahlen betrachtet, dann wird einem noch mulmiger: Die Krefelder Studie zum Beispiel, die eine gewisse mediale Berühmtheit erlangt hat und bei der die Forscher einen Rückgang der Biomasse an Fluginsekten um durchschnittlich 76% über einen Zeitraum von nicht einmal 30 Jahren feststellen mussten, und das, wohlgemerkt, auf Naturschutzflächen. Bei anderen Artengruppen sieht es nicht besser aus. Dabei sollten wir unbedingt dem nicht sonderlich schönen Wort „Biomasse“ Beachtung schenken, also dem Rückgang der Individuenzahlen. Es führt uns klar und deutlich vor Augen, dass das Problem viel grundlegender ist als „nur“ das (Ver)schwinden von Arten: Unsere Ökosysteme stehen am Scheideweg.
Die traurigen Befunde ziehen sich fast flächendeckend über unsere Landschaft. Eine erfreuliche Ausnahme bilden großflächige Beweidungsprojekte, sogenannte „Wilde Weiden“, die zumindest hoffen lassen, dass noch nicht alles verloren ist. Dort sind erstaunliche Erfolge zu verzeichnen, die Mut machen. Man findet sie in historisch gewachsenen, noch erhalten gebliebenen alten Weidelandschaften oder auch in Form von neu etablierten Modellprojekten. In der Regel liegen sie auf Sonderstandorten, auf denen aus unterschiedlichen Gründen ausreichend große Flächen zur Verfügung gestellt werden konnten, zum Beispiel auf ehemaligen Truppenübungsplätzen oder in Bergbaufolgelandschaften. Dort trifft man noch oder wieder auf eine überraschend und erfreulich hohe biologische Vielfalt.
Das Management vieler herkömmlicher Schutzgebiete hingegen ist oftmals auf rein mechanische Pflege ausgerichtet und dies mag durchaus zu sehr bunten und artenreichen Wiesen führen. Aber man kann nicht übersehen, dass beispielsweise die Wiesenbrüter auch dort mittlerweile häufig fehlen. In der „Normallandschaft“ wundert das niemanden mehr, aber auf den Naturschutzflächen? Die Ursachen sind sehr komplex und beginnen meistens schon mit dem geringen Flächenumfang. Aber es fehlt auch oft der Einfluss von Weidetieren. Mähwiesen allein sind bei weitem keine Optimalbiotope in jeder Hinsicht, weder für Wiesenbrüter noch für Insekten und für viele weitere Arten. Die Mahd ist ein schwerwiegender Einschnitt, bei der die Insektenfauna und ihre Entwicklungsstadien schlagartig zerstört werden und sämtliche Wiesenvögel ihre Nahrungsgrundlage verlieren. Und dabei sind sage und schreibe 60 % aller Vogelarten auf Gliederfüßer angewiesen. Hinzu kommt, dass sich Brutzeiten und Mahdtermine häufig überschneiden und damit viele Gelege verloren gehen. Natürlich gehen auch in Weiden Gelege verloren und natürlich lässt sich das alles für die Tierwelt schonender gestalten: durch staffelartige Mahd auf kleinen Flächen, Brachestreifen, Doppelmesser-Mähwerke mit hohen Schnitthöhen usw.. Doch Theorie und Praxis sind zwei Paar Schuhe, denn das ist aufwändig und daher weniger effizient. Die Befunde in vielen Regionen sind leider ernüchternd und sprechen eine klare Sprache: Es ist oftmals nur eine Frage der Zeit, bis die Populationen der Wiesenvögel in solchen Gebieten zusammengebrochen und auch zahlreiche Insektenarten verschwunden sind. Hinzu kommt noch der oftmals beträchtliche Einfluss aus der Umgebung, in der häufig gedüngt und gespritzt wird, was das Zeug hält. Viele Wildbienenarten benötigen ebenfalls Weiden,
weil drei Viertel von ihnen ihre Nester im Boden anlegen und sie dazu besonnte Störstellen oder Rohbodenflächen brauchen. Aber auch viele Vogelarten, die nicht auf dem Boden der Weiden brüten, profitieren erheblich, beispielsweise Neuntöter, Hänfling und viele Greifvögel- und Eulenarten. Am bekanntesten sind wohl der Star und die Rauch- und Mehlschwalbe, deren Existenz förmlich an den Insektenreichtum der Landschaft gebunden ist.
Welch enorme Bedeutung Weiden als Nahrungsbasis haben, zeigt folgende einfache Kalkulation: Eine Kuh bringt es auf etwa 20 kg Kuhfladen pro Tag, rund 2 t pro Jahr, wenn das Tier ganzjährig draußen ist. Das bildet die Nahrungsgrundlage für etwa 100 kg Insektenmasse, eine Basis für die Entstehung von bis zu 10 kg Wirbeltiermasse: Wiesenvögel, Reptilien, Amphibien, Fledermäuse und so weiter. Dass diese einfache Rechnung aufgeht, machen die großflächigen Modellprojekte zur Beweidung in Deutschland und Europa eindrucksvoll deutlich.
Eine Nebenbemerkung sei noch gestattet. Während man in den Wilden Weiden die ganz oder fast ausgerotteten großen Pflanzenfresser Auerochse (Heckrind als dessen Nachzucht), Wisent und Wildpferd wieder nach Mitteleuropa zurückholt und in Ehren hält, stellt man dem Rothirsch, dem einzigen großen Herbivoren, der uns noch verblieben ist, weiterhin unerbittlich nach und vertreibt ihn fast komplett aus dem Offenland in den Wald. Und dann regt man sich wiederum über die Schäden auf, die er dort anrichtet. Eine völlig widernatürliche und unerträgliche Situation, über die auch in Teilen des Naturschutzes einfach der Mantel des Schweigens gehüllt wird.
Nun lassen sich diese großflächigen Wilden Weiden nicht so ohne weiteres auf sämtliche Landschaften übertragen, auch nicht auf unsere Region. Aber auch wenn kleinere Brötchen gebacken werden müssen, sind viele Dinge durchaus vergleichbar und mit Haus-Weidetieren umsetzbar. Die Anerkennung der Beweidung im Naturschutz wächst. Es gibt aber häufig auch noch Vorbehalte. Man hat dabei, natürlich berechtigt, die krassen Schäden durch sehr intensive Beweidung vor Augen. Aber
intensiv und naturverträglich sind wie Äpfel und Birnen, also nicht vergleichbar. Der Weg jedenfalls, artenreiche Landschaften allein durch Mahd mit einem bestimmten Management erhalten zu wollen, stellt sich zunehmend als Sackgasse heraus. Es muss versucht werden, in möglichst weiten Teilen der Landschaft einen gesunden Mix aus Weiden und Wiesen zu etablieren, natürlich beide möglichst naturverträglich bewirtschaftet und auch auf vielen landwirtschaftlichen Flächen, nicht nur in Schutzgebieten. Das gilt auch für unsere Region. Ansonsten werden wir es vermutlich nicht schaffen, die biologische Vielfalt zu bewahren. Dies setzt auch in starkem Maße die Beteiligung und Mitwirkung der Landwirte voraus, die sowohl finanziell als auch öffentlichkeitswirksam unterstützt werden müssen, um durchaus vorhandene Ansätze zur naturnahen Beweidung weiter auszubauen und zu verbessern.
Ein weiteres Problemfeld soll noch erwähnt werden. Viele der naturschutzfachlich wertvollen Flächen sind Bestandteil des europäischen Schutzgebietsnetzes Natura 2000 und liegen in Fauna-Flora-Habitat(FFH)-Gebieten, in denen bestimmte Lebensraumtypen (LRT) ausgewiesen sind, die laut Richtlinie in einem günstigen Erhaltungszustand verbleiben müssen, ansonsten drohen Sanktionen von der Europäischen Union. Bei der Ausweisung dieser LRT-Flächen fanden vorwiegend botanische Gesichtspunkte Berücksichtigung. Hinzu kommt, dass die mittlerweile äußerst prekäre Lage vieler Vogel- und Insektenarten bei der Etablierung von Natura 2000 noch nicht in diesem Ausmaß erkennbar war.
Die beiden für unsere Region wesentlichen LRTs sind Borstgrasrasen und vor allem Bergmähwiesen. Bei den Letzteren wird, wie der Name schon sagt, der Mahd die dominierende Rolle eingeräumt. Auch hier kommt es manchmal zu Konflikten, wenn auf solchen Flächen beweidet werden soll, zum Beispiel aus Gründen des Insekten- und Vogelschutzes. Hier müssen Kompromisse gefunden werden, bei denen die neueren Entwicklungen und aktuellen Gegebenheit vor Ort Berücksichtigung finden.
Man sollte das europäische Schutzgebietsnetz schon als eine Erfolgsgeschichte sehen. Ohne dieses sähe es vermutlich noch viel trüber aus in unserer Landschaft. Ein durchaus sinnvolles Instrumentarium eigentlich, das aber leider vielen aktuellen Entwicklungen, wie zum Beispiel dem europaweiten Rückgang der Wiesenbrüter und den drastischen Verlusten an Insekten, nicht ausreichend Rechnung tragen kann, ebenso wenig wie bestimmten lokalen oder regionalen Besonderheiten. Hier eng am „Puls der Zeit“ zu bleiben, dazu ist man offensichtlich (noch) nicht in der Lage.

Matthias Scheffler

Literatur/Quellen:
Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz im Landkreis Soest e.V. (ABU) (Hrsg) (2019): Naturnahe Beweidung und NATURA 2000, zu beziehen über die ABU: (Email: abu@abu-naturschutz.de).
Anita Idel (2019): Die Kuh ist kein Klima-Killer! Wie die Agrar-Industrie die Erde verwüstet und was wir dagegen tun können. Metropolis-Verlag, Weimar bei Marburg.
Dieter Haas (2019): Wiesen- oder Weidevögel? FALKE 7/2019, 22-27.

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