Über Naturbewahrung und Naturerfahrung

Foto: Matthias Scheffler

„So wie Menschen 2040 das Gefühl für ihren Körper verloren haben oder erst gar nicht mehr gewannen, so hat sie auch der Instinkt für das Biologische im Allgemeinen verlassen. Die Menschen der Zukunft fühlen sich näher mit Computern verwandt als mit anderen Tieren. Unser Gefühl für den Zusammenhang mit der Natur ist verloren gegangen. Die Welten, in denen Menschen 2040 leben, haben nichts mehr mit unmittelbarer Naturerfahrung zu tun. Was uns begegnet, stammt aus Menschen- oder Maschinenhand, ist Kultur- oder Technikwelt – und auch diese sind ununterscheidbar miteinander verschmolzen. Alles, was wir sehen, spiegelt den Menschen wider. Diese Welt ist ohne Transzendenz. Denn je mehr der Mensch via Technik über die Natur herrscht, umso seelenloser erscheint ihm das Beherrschte. …
Gefühlsdimensionen wie ‚Heimat‘, ‚Natur‘, ‚Ursprünglichkeit‘, ‚Authentizität‘, ‚Geborgenheit‘ und so weiter sterben aus. Irgendwann weiß keiner mehr, was das war, und dass es ihm fehlt. Der Mensch des Jahres 2040 lebt in einer digitalen Obdachlosigkeit. Wer mit seinen Bits und Bytes überall zu Hause ist, ist nirgendwo zu Hause!“
Richard David Precht, „Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft“

Einleitung

Nun, wie würde Ihnen eine solche Welt gefallen, die uns Richard David Precht hier skizziert. Könnten Sie einer solchen Zukunft etwas abgewinnen oder sind Sie eher erschrocken wie wir, würden gerne darauf verzichten, in einem derart künstlichen Gebilde leben zu müssen, wenn man das überhaupt als Leben im herkömmlichen Sinne bezeichnen kann? Vielleicht ist das vielen aber einfach nur egal und sie sind überzeugt davon, dass sie in jedem nur denkbaren Elend zurechtkommen würden, so schauerlich es aus heutiger Sicht auch erscheinen mag. So mancher wird die Frage auch eher lästig finden und sich weigern, mit Grübeln über ungelegte Eier seine knappe Zeit zu vergeuden. So einfach sollten wir es uns aber nicht machen. Es macht durchaus Sinn, sich derartige Bilder von einer nicht so ganz aus der Luft gegriffenen Zukunft einmal vor Augen zu halten, so schwer einzuschätzen die künftigen Entwicklungen auch sein mögen. Denn zumindest eines wird doch aus der jüngeren Geschichte klar und deutlich: Die zunehmende Künstlichkeit und Verfremdung der Welt, die unsere derzeitige Lebensweise zur Folge hat, geht in erschreckendem Maße zu Lasten der Natur. Immer mehr Raum wird ihr entzogen, immer mehr Entfaltungsmöglichkeiten werden ihr genommen. Die Vielfalt schwindet, die Einfalt platzt aus allen Nähten. Dazu brauchen wir nicht einmal den Blick in die große weite Welt zu richten, ein Abstecher vor die eigene Haustür reicht vollkommen aus. Nicht nur das Bild der Landschaft hat sich stark gewandelt. Auch die Vielfalt an Lebensräumen, Pflanzen und Tieren geht stark zurück. Wir haben auch bei uns in den letzten Jahrzehnten schon einige sehr attraktive Arten verloren, vom unbemerkten Verschwinden der eher unscheinbaren und weithin unbekannten Arten einmal ganz abgesehen. Andere breiten sich aus oder kehren zurück. Das stimmt auch wieder. Die Natur ist immer für Überraschungen gut. Insgesamt aber ist die Bilanz eindeutig negativ, vor allem wenn man die Zahl der Individuen sieht, nicht allein die Artenvielfalt. Und eine Trendwende scheint nicht in Sicht, weder lokal noch global.
Diese Dinge dem Selbstlauf zu überlassen ist wenig vernünftig. Aber merkwürdigerweise scheint gerade dies der Fall zu sein, obwohl unsere Vernunft doch eigentlich unser ganzer Stolz ist. Es gibt zurzeit weder Parteien, noch einflussreiche gesellschaftliche Bewegungen oder Gruppen, die dem Erhalt der biologischen Vielfalt angemessene Wichtigkeit und Priorität einräumen. Andere Dinge haben Vorrang. Wachstum ist und bleibt der Fetisch, an dem nicht gerüttelt werden darf. Die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung kommt einem vor wie ein Zug nach irgendwo, Reiseziel unbekannt. Die wechselnden „Zugführer“ eher nur noch darum bemüht, das Gefährt vor der Entgleisung zu bewahren, während die fleißigen „Heizer“, die immer nur ihre „Kohlen“ im Auge haben, unermüdlich damit beschäftigt sind, im Kessel ordentlich Dampf zu machen und die Fahrt weiter zu beschleunigen.
Auch die Entwicklungen, die sich im Zusammenhang mit Corona derzeit abzeichnen, scheinen daran wenig zu verändern. Es deutet sich nicht nur eine zunehmende soziale Distanziertheit an, auch auf unserem „Isolationskurs“ gegenüber der Natur schreiten wir fleißig fort. Wir können scheinbar nur schwer akzeptieren, dass die Tierart „Mensch“ zwar eine gewisse Sonderstellung im Tierreich einnimmt, aber nichtsdestotrotz fester Bestandteil der Natur ist und das auf Gedeih und Verderb und auf immer und ewig. Obwohl uns dieser kleine Virus so klar und deutlich wie selten zuvor gezeigt hat, was für verletzliche „Pflänzchen“ wir eigentlich sind.
Alle und vor allem die, denen Natur noch ein wenig am Herzen liegt, sollten daran interessiert sein – und dies bei allen Gelegenheiten auch anmahnen -, dass dringend der Diskurs geführt werden muss, in welche Richtung die Reise gehen soll und wie wir der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen ein Ende setzen können. Wir nähern uns sonst weiter systematisch und relativ zügig den Grenzen an, die der Planet Erde für ein einigermaßen geordnetes und beherrschbares Funktionieren seiner Kreisläufe setzt. So sieht es jedenfalls aus und die Warnsignale sind nun wirklich nur noch schwer zu übersehen. Und hier liegt eben auch der entscheidende Unterschied zu früheren Zeiten, in denen wir ja auch schon auf bedenkliche Art und Weise Natur genutzt und übernutzt haben. Dies sind ja durchaus keine neuen Erscheinungen, vor denen wir hier stehen. Neu ist die geballte Wucht, das erschreckende Ausmaß der Zerstörungen. Wir müssen ja nicht zurück ins Mittelalter, nur einen Gang runterschalten. Absteigen von unserem hohen Ross. Man muss nicht alles machen, was man kann. Man führt kein unglücklicheres Leben, wenn man bestimmte Dinge einfach sein lässt. Manchmal kann ein Weniger auch mehr sein.

Naturbewahrung als moralische Aufgabe

Aber nicht nur aus Eigeninteresse sollten wir uns zum Wohle der Natur bestimmte Grenzen setzen, sondern auch aus Verantwortung für unsere Mitwelt, also aus moralischen oder christlichen Beweggründen. Wir haben einfach nicht das Recht, auf diesem Weg der Naturzerstörung fortzufahren. Papst Franziskus hat dies in seiner Umweltenzyklika „Laudato si“, die nicht nur Christen wärmstens ans Herz gelegt werden kann, schon 2015 klar und eindrucksvoll benannt:
„Doch es genügt nicht, an die verschiedenen Arten nur als eventuelle nutzbare ‚Ressourcen‘ zu denken und zu vergessen, dass sie einen Eigenwert besitzen. Jedes Jahr verschwinden Tausende Pflanzen- und Tierarten, die wir nicht mehr kennen können, die unsere Kinder nicht mehr sehen können, verloren für immer. Die weitaus größte Mehrheit stirbt aus Gründen aus, die mit irgendeinem menschlichen Tun zusammenhängen. Unseretwegen können bereits Tausende Arten nicht mehr mit ihrer Existenz Gott verherrlichen, noch uns ihre Botschaft vermitteln. Dazu haben wir kein Recht.“
Nach anfänglich beachtlicher Aufmerksamkeit ist auch seine Botschaft vergleichsweise wirkungslos verhallt. Eingereiht in eine Armada mahnender Worte so vieler anderer, die aus religiöser oder moralischer Sicht heraus den Erhalt der Schöpfung oder der Mitwelt beschworen haben – und die wir schon seit Jahrhunderten mit schöner Regelmäßigkeit in den Wind schlagen.

Natur erleben im Wandel der Zeit

Die oben genannten Beweggründe zur Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen scheinen offensichtlich nicht hinreichend zu sein und das nicht erst seit heute. Auch die Vielfalt und der Artenreichtum in Natur und Landschaft, die sich vor der Industrialisierung der Landnutzung entwickelt hatte, war ja nicht das Ergebnis einer gezielten Entwicklung, sondern der noch fehlenden technologischen Möglichkeiten. Und man muss sich fragen: Was kann eigentlich Menschen – oder zumindest einen großen Teil von ihnen – zu einem pfleglicheren Umgang mit Natur und Landschaft bewegen? Auch die Mehrzahl in der älteren Generation, die noch mehr Bezug und Kontakt zur Natur hatte, ist doch nicht sonderlich besorgt darüber, wie es den tierischen und pflanzlichen Mitgeschöpfen ergeht. Häufiger Kontakt mit der Natur allein scheint also nicht die Lösung zu sein. Wieso sollte sich das in Zukunft ändern? Immer weniger Menschen haben beruflich mit Natur zu tun. In der Freizeit bildet die Landschaft oft nur eine Art schöne Kulisse zur Erholung oder zur Verbesserung der eigenen Fitness und Gesundheit. Hinzu kommt, dass die Rückgänge in der Artenvielfalt vor allem der jüngeren Generation gar nicht so recht bewusstwerden, weil sie es nicht anders kennen (auf Neudeutsch shifting baselines). Während ältere Menschen bei dem Wort Rebhuhn noch einen Vogel aus Fleisch und Blut vor ihrem geistigen Auge haben, wissen viele jüngere selbst mit dem Wort nichts mehr anzufangen.
Es könnte sein, dass Friedrich Hölderlin (1770-1843) recht hat mit seinem Satz „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ und die ziemlich prekäre und bedrohliche Lage hinsichtlich biologischer Vielfalt, die Gefährdung der Ökosysteme und solche Entwicklungen wie der Klimawandel bei vielen Menschen zu einem Umdenken und zu Verhaltensänderungen führen. Sicher ist das nicht. Deshalb muss aus unserer Sicht einem weiteren Aspekt mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden: Den Menschen muss der ungeheure Wert – nicht nur im materiellen Sinne – der lebendigen Welt um uns herum deutlich werden und das nicht nur rein wissenschaftlich und verstandesmäßig, sondern auch emotional. Wir Menschen sind nun einmal besonders an den Dingen interessiert, die wir lieben. Die geben wir nicht so gerne her, die wollen wir uns bewahren. Ohne wirkliche Naturverbundenheit, ohne das Gefühl, wie eng wir mit dieser Erde verzahnt sind, ohne Liebe zur Natur werden wir diese Abwärtsspirale wohl nicht bremsen können. Das wird auch dem Naturschutz immer klarer und hier schließt sich auch der Kreis, weshalb Naturerlebnisse insgesamt und besonders die in der eigenen Heimat von so enormer Bedeutung sind. Nicht nur reine Wissensvermittlung, sondern auch der emotionale Bezug zu Landschaften, Tieren und Pflanzen muss das Ziel von Bildung, Aus- und Weiterbildung in allen möglichen Formen und in allen Altersstufen sein.

Naturbewahrung und Naturerfahrung vor der Haustür

Wenn wir in die große weite Welt blicken, dann kann man leicht die Zuversicht verlieren vor lauter Fragezeichen und Rätseln. Und unsere Medien scheinen Gefallen daran zu finden, uns die Katastrophen, die sich auf dieser Erde tagtäglich abspielen, von früh bis spät zu präsentieren und auf der anderen Seite – sozusagen zur Beruhigung – darüber in Kenntnis zu setzen, welches Kleid Prinzessin soundso zu ihrer Geburtstagsfeier trug und mit welchem Pudding sie es bekleckert hat. Deprimiert wendet man sich ab und wirft sich bitterlich weinend in die Kissen. Aber Spaß beiseite, der Optimismus hat es nicht leicht heutzutage. Am besten sucht man ihn noch vor Ort, da läuft er einem noch am ehesten über den Weg. Vielleicht in Form eines Igels bei seinem Gang durch den heimischen Garten oder einer Blaumeise bei ihren Turnübungen in den Bäumen oder wo und wie auch immer. Scheinbar ebenso bedeutungslos wie der gerade erwähnte Pudding, aber eben nur scheinbar.
Das soll um Gottes Willen kein Plädoyer dafür sein, die Augen vor den Problemen in dieser globalisierten Welt zu verschließen und zu versuchen, zu ihrer Lösung ein klein wenig beizutragen, in welcher Form auch immer. Das soll nur deutlich machen, dass wir uns deshalb die Freude an der Natur im engeren Umfeld und den Mut und das Bemühen um deren Erhalt nicht nehmen lassen dürfen. Wir sollten uns trotz aller Unkenrufe um eine Region bemühen, in der es noch eine Vielfalt an Pflanzen und Tieren gibt, die uns durch ihre Schönheit begeistert und in ihren Bann zieht, auch wenn es manchmal sinnlos erscheinen mag. Die Freude und Genugtuung auch über kleine Erfolge kann einem niemand nehmen. Es ist unbezahlbar, wenn ein Kohlweißling oder ein Schwalbenschwanz durch den Garten schwebt, wenn ein Storchschnabel oder eine Glockenblume am Wegrand auftaucht, wenn uns die Feldlerche ihr grandioses Lied vorträgt oder der Uhu uns mitteilt, dass er im Muldetal sein Glück gefunden hat. Und lassen Sie uns diese Welt unseren Kindern und Enkeln zeigen. Sie müssen merken, wie begeistert wir von ihr sind, so oft wie möglich und bei allen Gelegenheiten. Auch unsere Nachfahren haben das Recht, diese Dinge kennen zu lernen, in Wald, Feld und Garten gleich nebenan. Nicht nur auf dem Bildschirm im Taschenformat, auf dem man sich die halbe Welt „heranwischen“ kann, die am Ende aber immer nur eine halbe Welt bleibt, eine Kunst- und Ersatzwelt, eine designte Welt, die an die Wirklichkeit nicht heranreicht, auch wenn das manchmal so scheinen mag. Lassen Sie es uns zumindest versuchen. Egal wie es ausgeht. Der Versuch ist es wert! Dazu noch einmal Papst Franziskus:
„Da alle Geschöpfe miteinander verbunden sind, muss jedes mit Liebe und Bewunderung gewürdigt werden, und alle sind wir aufeinander angewiesen. Jedes Hoheitsgebiet trägt eine Verantwortung für die Pflege dieser Familie. Es müsste für sie eine sorgfältige Bestandsaufnahme der Arten erstellen, die es beherbergt, um Programme und Strategien für den Schutz zu entwickeln, und dabei mit besonderer Sorge auf die Arten achten, die im Aussterben begriffen sind.“
Der Landschaftspflegeverband hat in den letzten Jahren einige Möglichkeiten geschaffen, um die mannigfaltige Tier- und Pflanzenwelt unserer Heimat, die wir ja zum Glück noch haben, näher vorzustellen und damit hoffentlich auch einen kleinen Beitrag zu ihrem Erhalt zu leisten. Die Palette ist breit und für jeden Geschmack lässt sich Interessantes finden, auch für Kinder und Jugendliche, die uns besonders am Herzen liegen. Dazu verweisen wir auf den Link am Ende des Beitrags.
Schauen wir uns zuvor noch an, welch schöne Worte der bekannte britische Insektenkenner und Naturschützer Dave Goulson zu diesem Thema gefunden hat. Ich glaube, dem können wir uns nur anschließen:
„Sie können etwas nicht zu lieben lernen, was sie nicht kennen. Wenn sie nie das Glück hatten, im späten Frühling auf eine Wildblumenwiese zu gehen und den Blumenduft zu riechen, die Vögel und Insekten singen zu hören und die Schmetterlinge durch das Gras huschen zu sehen, dann wird es ihnen wahrscheinlich ziemlich egal sein, wenn wieder einmal so eine Wiese zerstört wird … In den letzten Jahrzehnten sind etliche großartige Natur-Dokumentarfilme entstanden, in denen wir alle möglichen exotischen Geschöpfe bestaunen können, die wir nie mit eigenen Augen zu Gesicht bekommen werden; aber ich glaube nicht, dass das ausreicht, auch wenn es ein guter Ansatz sein mag. Wir müssen die Kinder nach draußen kriegen, sie auf allen Vieren in der Natur herumbuddeln lassen.“
Dave Goulson, „Die seltensten Bienen der Welt. Ein Reisebericht“

Matthias Scheffler

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