Ein Ausflug nach Sauersack / Rolava

Sauersack / Rolava im böhmischen Westerzgebirge, Foto: Matthias Scheffler

„In diesem Zusammenhang erzählte ich Frantisek von meinen Beobachtungen, die ich im vergangenen Jahr bei einem Besuch in meiner alten Vaterstadt gesammelt hatte. Als ich die Stadt nach mehr als zwanzig Jahren wiedersah – es war ursprünglich ein rein deutsches Gebiet, das nach 1945 von Tschechen und Slowaken besiedelt wurde –, mußte ich feststellen, daß sich der nationale Charakter des tschechischen Volkes nicht nur auf die Häuser, auf die Straßen und Plätze, sondern auch auf die umliegenden Dörfer übertragen hat. In tausend kleinen Dingen zeigte sich das andere Wesen dieser Menschen. Die neue Sprache drang in die Fugen der alten Häuser ein, die ersten kleinen architektonischen Veränderungen im Stadtbild wurden vollzogen, Plastiken und Gedenksteine ausgewechselt, eine andere Lebensform breitete sich aus. Ein solcher Prozeß vollzieht sich nicht von heute auf morgen, es dauert Jahrzehnte, ehe er für das menschliche Auge, für den aufmerksamen Beobachter sichtbar wird. Der Charakter eines Volkes aber verändert nicht nur das Gesicht einer Stadt, sondern auch das Fluidum einer Landschaft. Obwohl die Berge meiner Heimat noch immer an ihrer alten Stelle stehen, hat die Landschaft heute bereits eine andere Aura angenommen.“
Hanns Cibulka (1920-2004), Thüringer Tagebücher


Ein Dorf im eigentlichen Sinne sollte man an diesem Ort auf dem Kamm des böhmischen Erzgebirges nicht mehr erwarten, denn es steht nur noch ein einziges Haus, die ehemalige Post, die mangels anderer Möglichkeiten nun geradezu automatisch eine Art Dorfzentrum darstellt und derzeit sogar einen neuen Besitzer gefunden hat, der sich an die Renovierung macht, was immer da letztendlich entstehen mag. Die in der Nähe befindlichen vier weiteren Häuser gehören nämlich schon zu Prebusz/ Frühbuß, dem Nachbarort. Die Flurgrenze bildet das Flüsschen Rolava, nach dem der Ort seinen Namen trägt.
Sauersack hatte schon bessere Zeiten, jedenfalls als Dorf, wie auf den Bildern unten unschwer zu erkennen ist. Kaum zu glauben, aber im Jahr 1910 lebten hier 1162 Einwohner in 190 Häusern. 1945/46 wurde die deutsche Bevölkerung vertrieben und damit war das Schicksal des Ortes so gut wie besiegelt. 1961 lebte schon niemand mehr hier.
Heute entdeckt man vom ehemals stattlichen Dorf nur noch wenige Reste von Grundmauern. Selbst die uralten Obstbäume, die lange Zeiten hindurch unentbehrlich für die menschliche Ernährung waren und von denen einzelne vergreiste Exemplare bis vor wenigen Jahren in der Nähe der Grundmauern noch zu sehen waren, sind mittlerweile verschwunden und gehören der Geschichte an. Welche Sorten in dieser stattlichen Höhenlage noch verwertbares Obst lieferten, ist, wie vielerorts auch, nicht bekannt oder nur noch bruchstückhaft zu erahnen. Niemand hielt es für wichtig, dies zu dokumentieren, wie alles andere auch zur damaligen Natur und Landschaft, Tier- und Pflanzenwelt, das uns heute so sehr interessieren würde.
Andererseits, wenn man ehrlich ist, hat die „Auslöschung“ dieses Ortes auch seine positiven Seiten. Wir dürfen hier und an weiteren Orten auf dem böhmischen Teil des Erzgebirgskammes, wo es eine analoge Entwicklung gab, eine Flora und Fauna in Augenschein nehmen und bestaunen, die man auf sächsischer Seite derzeit vergeblich sucht. Und wir dürfen getrost annehmen – auch wenn sich die Gegebenheiten in der Landschaft in Tschechien nach dem 2. Weltkrieg und auch in den letzten Jahrzehnten allgemein anders entwickelt hat als in Deutschland -, dass die Tier- und Pflanzenwelt dieses ehemals von deutschen Bewohnern geprägten Landstrichs heute eine völlig andere wäre, wenn die Vertreibung oder Aussiedlung der Deutschen nicht stattgefunden hätte. Eine sehr extensive Art der Beweidung, die es in dieser Form vermutlich nicht gäbe, ist heute die Hauptnutzungsform auf einem Großteil der Fluren der ehemaligen Ortschaften und dies ermöglicht einer Vielzahl von Pflanzen- und Tierarten eine Existenz, die im deutschen Teil des Westerzgebirges schon ganz oder fast ausgestorben sind wie solch mittlerweile kaum noch bekannte Wiesenbrüter wie die Bekassine, das Braunkehlchen, und der Wiesenpieper. Oder auch das Birkhuhn, über das im Rahmen der  kontrovers diskutierten und völlig unzureichenden Bemühungen zum Schutz der europaweit bedeutenden Population im Erzgebirge ab und an noch in der Presse berichtet wird (siehe dazu auch die unten aufgeführten Links zu weiteren Beiträgen).

Matthias Scheffler

Dies ist ein Beitrag aus der Broschüre „Lebendige Vielfalt vor der Haustür – Von der Vielfalt, Eigenart und Schönheit des Westerzgebirges“.
(siehe dazu unter der Rubrik Publikationen auf der Website des LPV Westerzgebirge)

Zur Bekassine siehe auch den Beitrag „Die Bekassine – Von Ziegen am Himmel“ 

Zum Braunkehlchen siehe auch den Beitrag „Das Braunkehlchen – Vogel des Jahres 2022“

Zum Wiesenbrüterschutz im Westerzgebirge siehe auch den Beitrag „Es war einmal – Das Dilemma mit den Wiesenbrütern“

Umfangreiche Informationen zu Geschichte und Gegenwart des  böhmischen Erzgebirges liefert die Internet-Zeitschrift der „GRENZGÄNGER“

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