Der Rothirsch

Rotwild am Ortsrand, Foto: Jan Gläßer

Der Rothirsch – Ein Teil unseres Naturerbes
Zur biologischen Vielfalt (im Wald)

„Ich bin Leben, das leben will,
inmitten von Leben, das leben will.“
Albert Schweitzer (1875-1965)

Ein Wort vorab

Ich möchte hier einmal meine Sicht auf eine für mich sehr beeindruckende, aber auch bedauernswerte Tierart und ihre derzeitige Situation darstellen, die seit vielen Jahrhunderten zwischen wechselnden Fronten steht. Mit der Kulturgeschichte des Rothirsches lassen sich dicke Bücher füllen. Schon immer steht er zwischen den Fronten: Einerseits hochgepäppelt als jagdliches Kultobjekt, andererseits erbittert bekämpft als Schädling in Wald und Feld. Und auch heute steht er wieder im Mittelpunkt einer Kontroverse „Wald versus Wild“. Er sorgt in einem fast schon erbitterten Streit zwischen der „Waldfraktion“ und der „Wildfraktion“ immer wieder für Schlagzeilen und bewegt die Gemüter vieler Naturfreunde im Erzgebirge, auf das ich mich hier überwiegend beziehe. In anderen Regionen ist die Situation eine ganz andere und auch im Erzgebirge sollte man regionale und sogar lokale Unterschiede nicht außer Acht lassen. Fest steht allerdings: Die einstmals fast flächendeckend vorkommende Art lebt nur noch auf einem Viertel ihres ehemaligen Verbreitungsgebietes in Deutschland, obwohl sie durchaus in der Lage wäre, große Teile des einstigen Terrains wieder zu erschließen. Auch für Sachsen gelten ähnliche Werte. Das sollte uns eigentlich zu denken geben, wird aber seltsamerweise weitgehend widerspruchlos hingenommen, auch vom Naturschutz. Wir freuen uns zu Recht über die unerwartete Rückkehr des Wolfes, eines anderen ehemaligen „Vertriebenen“, dem wir gerne erlauben wollen, dass er das ganze Land wieder erobert. Dafür ist die Gesellschaft offenbar auch bereit, ordentlich in die Tasche zu greifen. Beim Rothirsch geht sie eher den umgekehrten Weg, auch und vor allem aus ökonomischen Erwägungen heraus. Warum eigentlich? Gibt es im Tier- und Pflanzenreich eine Mehrklassengesellschaft, Arten 1., 2. oder gar 3. Klasse? Es deutet einiges darauf hin, aber ist das zu akzeptieren? Übrigens war die Geschichte von Wolf und Rothirsch schon immer eng verzahnt und wird es wohl auch wieder werden. Aber das ist ein anderes Thema.
Ich weiß, dass viele Naturschützer ähnlich denken wie ich, viele das aber auch etwas oder völlig anders sehen. Es gibt ihn eben nicht, den Naturschützer, ebenso wenig wie den Förster oder den Jäger und das ist auch gut so. Dabei kann ich nicht auf Details eingehen und nur einige wenige, allgemeine Aspekte beleuchten in diesem schwierigen und weiten Feld, das sich vor uns auftut. Vielleicht gelingt es mir, einige Denkanstöße zu liefern. Zur Präsentation von Lösungen fühle ich mich nicht berufen.

Der Rothirsch – ein Vertriebener aus seinem eigentlichen Reich

Den Rothirsch sehe ich nicht mehr, ich höre ihn nicht mehr – er hat sich unsichtbar gemacht. Er ist notgedrungen zum permanenten Flüchtling geworden, in ständiger Angst vor seinen Verfolgern lebend, die ihn in die ewigen Jagdgründe verbannen wollen, damit der Wald in Ruhe wachsen kann oder man scharf auf seinen hübschen Kopfschmuck ist. Sein Versteck ist der Wald. Dabei fühlt sich der Rothirsch dort nicht einmal sonderlich wohl, denn seine heimliche Liebe ist das offene oder halboffene Land, in das er gerne ziehen würde, wenn man ihn nur ließe.
Und selbst in seinem Exil gerät er erneut ins Kreuzfeuer, weil er fressen muss. Ein „Feind“ ganz anderer Art tut sich neuerdings auf, der Klimawandel. Bei den Versuchen, ihn einzudämmen, spielen die Wälder eine ganz wesentliche Rolle. Das Schalenwild stellt sich nun als der größte Störfaktor für einen möglichst schnellen und kostengünstigen Waldumbau heraus und muss demzufolge weitestgehend eliminiert werden. Aber ist das in dieser rigorosen Form wirklich notwendig oder sind wir damit nicht eher auf dem falschen Weg? Schauen wir doch einmal ins Offenland. Hier gab es unter dem gleichen Ziel viel blinden Aktionismus. So wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, massenweise Raps und Mais auf die Felder geholt, gegen eine einigermaßen vielfältige Pflanzen- und Tierwelt in der Feldflur eingetauscht und damit ein wesentlicher Teil der Probleme, die wir mit dem Wild jetzt haben, selbst herangezüchtet, indem ihm der Tisch überreichlich gedeckt wurde. Nichts ist also nur schwarz oder weiß und wir sollten sehr darauf bedacht sein, dass uns nicht im Wald die gleiche Misere passiert wie in der Feldflur.

Der Wald der Zukunft

Der Wald ist die „Bühne“, auf der sich das Drama des Rothirsches derzeit abspielt. Der Freistaat und sein Staatsbetrieb Sachsenforst haben eine klare Strategie, wie der sächsische Wald der Zukunft aussehen soll und streben bei der Waldbewirtschaftung „nach naturnahen, in ihrem Arteninventar und ihren Strukturen vielfältigen und damit stabilen, sich selbst verjüngenden Wäldern, die ihre positiven Wirkungen und wirtschaftlichen Erträge mit großer Stetigkeit erbringen“ (Naturschutzkonzept des Staatsbetriebs Sachsenforst). Es herrscht durchaus Konsens, dass mit einem solchen Ansatz viele Belange des Natur- und Artenschutzes umgesetzt werden können, zumal die waldbaulichen Ziele durch ein Naturschutzkonzept ergänzt werden. Aber leider nicht alle und es gibt aus Sicht des Naturschutzes durchaus einige Anforderungen, die über die derzeitige Praxis des Waldbaus weit hinausgehen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Wunsch und Wirklichkeit am Ende auseinanderklaffen, vor allem angesichts der Zeiträume, in denen sich Waldbau und –umbau abspielen. Davon zeugen die Wälder der Gegenwart. Auch sie wurden von der Forstwirtschaft bewusst und zielgerichtet aufgebaut und damals wie heute spielen ökonomische Gesichtspunkte eine sehr wesentliche Rolle, was ja bis zum gewissen Grad auch legitim ist. Deshalb tut der Naturschutz gut daran zu versuchen, weitere Belange einzufordern, u.a. mehr Flächen im Wald, auf denen man der Natur ihren Lauf lässt. Diese ruft sich ohnehin durch Borkenkäfer, Sturmschäden usw. immer öfter ins Gedächtnis und bestimmt das Wirken der Forstwirtschaft mehr als jener lieb sein dürfte. Aus Sicht des Naturschutzes ist Vielfalt vonnöten, nicht nur innerhalb der Wälder, sondern auch in Form einer differenzierteren Waldnutzung.
Für Details ist hier nicht der Platz. Nur auf ein besonders schwerwiegendes Problem zur Umsetzung des speziellen Artenschutzes möchte ich kurz hinweisen: den Schutz des Birkhuhns. Bei ihm handelt es sich doch zweifellos um eine Art, für die das Erzgebirge eine ausgesprochen hohe Bedeutung hat und wobei – gemeinsam mit dem Bestand auf böhmischer Seite – eine reelle Chance besteht, eine vitale und zukunftsfähige Mittelgebirgspopulation zu erhalten. Angesichts dessen ist es unverständlich, aber auch bezeichnend, dass sich das Land Sachsen offensichtlich nur sehr schwer dazu durchringen kann, hierfür ausreichend Fläche zur Verfügung zu stellen und das in Bereichen, die Eigentum des Freistaates sind und sich zudem noch in Europäischen Vogelschutzgebieten befinden, die – leider oftmals nur dem Namen nach – eine bestimmte Funktion haben.
Und dann sind da eben noch Rothirsch und Co. und deren Rolle, die sie in unserer Landschaft spielen sollen. Hier hat zumindest ein Teil des Naturschutzes erhebliche Bauchschmerzen mit der Position von Sachsenforst und deren Umsetzung, nämlich einer aus meiner Sicht sehr rigorosen Bejagung.

Der Rothirsch und die biologische Vielfalt, Bejagung und Wildtiermanagement

Manche sächsischen Wälder zeigen mittlerweile eine wunderbare Naturverjüngung. Unübersehbar wurde schon einiges erreicht und Naturfreunden kann das Herz aufgehen, wenn sie durch solche Wälder streifen. Die Notwendigkeit des Waldumbaus wird wohl kaum jemand in Zweifel ziehen. Auch, dass es dazu der Bejagung bedarf, das steht außer Frage. Doch es geht um die Art und Weise und das Maß, wie das geschieht. Das sollten wir nicht nur an Bestands- und Abschussstatistiken und an Schälschäden festmachen und uns mit der Feststellung zufrieden geben, dass die Art nicht vom Aussterben bedroht ist. Denn es gibt sie eben und sie lässt sich nicht ausblenden, die Kehrseite der Medaille: Man sieht eine tolle Bühne, aber es fehlen die Darsteller. Es beschleicht einen ein ungutes Gefühl, wenn man darüber nachdenkt, welchen „Preis“ diese Bilder haben, weniger für uns, sondern für Rothirsch und Co.
Die derzeitige Art und Weise der Bejagung und des Wildtiermanagements sollte hinterfragt werden. Es gibt durchaus sinnvolle Vorschläge von Seiten der Wildbiologie, beispielsweise zu Jagd- und Jagdruhezeiten, zur Schaffung von Wildruhezonen, Lebensraumverbesserungen usw., die aber in der Praxis leider kaum Gehör zu finden scheinen. Auch Modellprojekte aus anderen Regionen liefern Ansätze, die durchaus optimistisch stimmen und über die nachgedacht werden sollte. Vor allem die nördlichen Bundesländer zeigen, dass Forst- und Landwirtschaft auch mit Hirschen erfolgreich betrieben werden kann.
Hinzu kommt, dass wir aufhören müssen, den Rothirsch nur in die Ecke des Waldschädlings zu stellen. Das wird seiner Rolle im Naturhaushalt und beim Erhalt der lebendigen Vielfalt nicht gerecht. Eine Vielzahl von Untersuchungen belegt mittlerweile ausgesprochen positive ökologische Wirkungen der großen Pflanzenfresser auf ihren Lebensraum. Sie sorgen für Mannigfaltigkeit und Dynamik, für Licht im Wald und vieles mehr. Ur, Wildpferd und Wisent wurden in freier Wildbahn ausgerottet. Der Rothirsch ist damit derzeit der einzige Großherbivore, der diese Funktion in unserer Landschaft noch wahrnehmen kann.
Die Probleme, die der Umgang mit dieser Art aufwirft, sind durchaus allgemeiner Art und halten auch dem Naturschutz den Spiegel vor. Und wir sollten das Bild, das uns da entgegenschaut, durchaus etwas genauer betrachten.

Vom Essen, von der Moral und von der Ehrfurcht vor dem Leben

Die biologische Vielfalt ist im Offenland weit mehr gefährdet als im Wald. Es ist aber zu befürchten, dass vorwiegend unter ökonomischen Gesichtspunkten ausgerichtete Entwicklungen hier zu ähnlichen Ergebnissen führen könnten wie in der Feldflur. Dort haben wir es leider schon fertig gebracht, die Lebensvielfalt weitgehend zu zerstören, haben die Kulturlandschaft, von der immer noch gerne die Rede ist, in beträchtlichen Teilen zu einer „Unkulturlandschaft“ (Wilhelm Bode in seinem Buch „Hirsche“) gemacht. Die Liste der Sünden ist lang, die Verbannung des Rothirschs in die „finsteren Forste“ gehört dazu.
Es wird zunehmend deutlich, dass der Mensch nicht so weitermachen kann, dass wir eine grundlegend neue Einstellung brauchen, mehr Ehrfurcht vor dem Leben und dessen Schönheit an den Tag legen sollten. Wir dürfen es nicht mehr rein rational und nüchtern betrachten, was in unserer Landschaft vorgeht und können unser wunderbares Leben nicht länger auf dem Rücken unserer tierischen und pflanzlichen Mitbewohner austragen. Auch sie haben ein Recht auf ein gutes, ein art- und tiergerechtes Leben.
Dazu kann auch die Ernährung viel beitragen. Die Menschen machen sich vermehrt Gedanken über das Elend in unseren Schweineproduktionsanlagen und Rinderfabriken. Einer zunehmenden Zahl vergeht dabei der Appetit an tierischer Kost und sie werden zu Vegetariern oder Veganern. Wären wir konsequent, dann dürfte auch einem Teil des Wildfleisches aus Wald und Feld nicht so ohne Wenn und Aber ein Freibrief ausgestellt werden. Auch ein Wildtier muss „ordentlich“ gelebt haben und ebenso getötet worden sein, erst dann kann ruhigen Gewissens sein Fleisch genossen werden. Auch das sollte Anspruch werden, wie in der Nutztierhaltung eben auch.
Der Erhalt der biologischen Vielfalt ist eine ebenso wichtige Aufgabe wie die Beschränkung des Klimawandels. Beide Problemfelder müssen als Komplex gesehen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Der Naturschutz muss versuchen, diese enge Verzahnung einer breiten Öffentlichkeit immer wieder deutlich zu machen. Die Bayern haben uns mit ihrem Volksbegehren Artenvielfalt „Rettet die Bienen“ Hoffnung gemacht, dass das geht. Im September sind in Sachsen Wahlen. Wir sollten unsere Stimme durchaus maßgeblich davon abhängig machen, was den Parteien der Erhalt der biologischen Vielfalt wert ist.

Ausblick

Das Dilemma des Rothirsches beginnt damit, dass diesem Tier sein ursprünglicher Lebensraum, das Offen- und Halboffenland, und damit eine artgemäße Lebensweise weitgehend genommen wurden. Es ist an der Zeit, ihm diese Räume wieder zu erschließen, zumindest in Teilen. Dabei müssen Dinge neu gedacht, neue Wege beschritten und Visionen entwickelt werden, die auf den ersten Blick träumerisch und unrealistisch erscheinen mögen. Der vom NABU ins Spiel gebrachte Schutzgebietsvorschlag „Grenzübergreifendes Biosphärenreservat ‚Oberes Westerzgebirge‘“ würde ein erster Schritt in diese Richtung sein. Diese Schutzkategorie bietet sehr gute Möglichkeiten, beispielhafte Modelle für eine nachhaltige Entwicklung der Landnutzung zum Erhalt der lebendigen Vielfalt zu schaffen. Das Obere Westerzgebirge hat hierfür sehr gute Voraussetzungen, nicht zuletzt durch die einmaligen Offenlandflächen im tschechischen Teil des Erzgebirgskamms. Der Rothirsch könnte dabei als Symbol- und Leitart dienen.
Die Gräben zwischen den verschiedenen Interessengruppen sind tief, eine Konfliktlösung ist noch weit entfernt. Wer zu zukunftsfähigen Lösungen kommen will, muss letztlich im Gespräch bleiben oder es wieder aufnehmen. Am Ende müssen Kompromisse gefunden werden, um für die Politik gangbare Wege aufzuzeigen und diese auch einzufordern. Ob dies gelingen kann, wird die Zukunft zeigen. Der NABU wird sich weiterhin an der Diskussion beteiligen, den eingeschlagenen Weg fortsetzen und nach konstruktiven, zukunftsträchtigen Lösungen suchen, um den Erhalt der Lebensvielfalt im Wald und im Offenland weiter voran zu bringen und die beiden Bereiche wieder näher zusammen zu führen.

„Die Welt ist ein schöner Platz und wert, dass man um sie kämpft.“
Ernest Hemingway (1899-1961)

Matthias Scheffler

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