„Wir gewinnen nicht mit jeder Generation Wissen hinzu,
es geht uns vielmehr verloren.“
Terry Glavin, „Warten auf die Aras“
Es wird ja viel Aufhebens gemacht um unsere „Großen“, um Staatenlenker, Dichter, Philosophen, Künstler und wer sonst noch alles zu Ruhm und Ehre in unserem Lande gekommen ist. Es wird geforscht und recherchiert, wer wann und wo seinen Fußabdruck hinterlassen und was er so alles getrieben hat, auch wenn er nur auf Durchreise war. So manches Denkmal, so manche Gedenktafel zeugen davon.
Das hat sicherlich eine gewisse Berechtigung, schade ist nur, dass auf der anderen Seite vieles für immer in Vergessenheit gerät, was es durchaus verdient hätte, bewahrt, aufgehoben und aufgeschrieben zu werden, auch wenn es nur regionale Bedeutung hatte oder auf einem Gebiet stattfand, dem das öffentliche Interesse fehlt. Ein solches Gebiet ist die Pomologie oder Obstbaukunde, die Lehre von den Obstarten und -sorten sowie von deren Bestimmung. Das war durchaus nicht immer so. So lange das im Hausgarten, auf der Obstwiese oder in den Obstalleen angebaute Obst unentbehrlich für die menschliche Ernährung war, so lange war es auch wichtig zu wissen, welche Sorten für welche Zwecke am besten geeignet waren und sich in den jeweiligen Regionen bewährt hatten. Auch wenn das nicht unbedingt wissenschaftlich betrieben wurde, ein gewisses Grundwissen in der Obstkunde war allgemein verbreitet. Vielfach waren es Pfarrer oder Lehrer, die sich intensiver mit der Thematik beschäftigten und so zu den Begründern der Pomologie als Wissenschaft wurden. Und dabei handelt es sich um ein durchaus weites Feld und schwieriges Fach, in das man viel Zeit investieren muss, denn nach groben Schätzungen gibt es allein in Deutschland heute noch über 1000 Apfelsorten und über 2000 Sorten anderer Obstarten. Die Vogelbestimmung ist also ein Kinderspiel im Vergleich zur Sortenbestimmung bei Apfel, Birne, Kirsche oder Pflaume.
Wilfried Müller hat sich das alles autodidaktisch beigebracht und hat es am Ende zu wahrer Meisterschaft gebracht. Er war einer der besten Obstkenner Deutschlands und jeden Herbst ständig unterwegs als gefragter Gast bei Sortenbestimmungen. Sein Keller quoll über von Obst, das man ihm aus ganz Deutschland und darüber hinaus zuschickte, um hinter das Geheimnis der Sorte zu kommen. Außerdem war er Mitbegründer und viele Jahre Geschäftsführer des Pomologen-Vereins. Er hat sich also große Verdienste erworben beim Erhalt der Sortenvielfalt des Obstes.
Und er fand auch noch die Zeit für uns Leute vom Naturschutzbund (NABU) oder Landschaftspflegeverband, wenn wir wieder einmal wissen wollten, was unsere Vorfahren auf ihren Obstwiesen so alles gepflanzt hatten. Wilfried Müller hinterlässt eine Lücke, die zumindest in der Region momentan niemand schließen kann.
Es wäre also durchaus angebracht: ein Plätzchen namens „Müllers Ruh“ oder so ähnlich, vielleicht unter einem Apfel- oder Birnbaum auf einer schönen Obstwiese. Ob es Wilfried Müller gewollt hätte, können wir ihn nicht mehr fragen. Auf jeden Fall werden wir oft und mit viel Wehmut an ihn zurückdenken, wenn wir wieder einmal ratlos unter einem stattlichen Obstbaum stehen und ihn gar zu gerne fragen würden, was denn da vor uns steht.
Statt einer Gedenktafel soll hier eines der schönsten Gedichte in deutscher Sprache stehen, die Verse eines großen Natur- und Wanderfreundes: Theodor Fontane. Damit wäre Wilfried bestimmt einverstanden, der nicht nur dem Obst, sondern auch der Natur und dem Garten sehr zugetan war. Und er würde sicher zu gerne wissen, um welche Sorte es sich bei dem legendären Ribbeck‘schen Birnbaum handelt.
Matthias Scheffler
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: „Junge, wiste `ne Beer?“
Und kam ein Mädel, so rief er: „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb `ne Birn.“
So ging es viel Jahre, bis lobesam
Der von Ribbeck auf Ribbeck zum Sterben kam.
Er fühlte sein Ende. `s war Herbsteszeit,
Wieder lachten die Birnen weit und breit,
Da sagte von Ribbeck: „Ich scheide nun ab.
Legt mir eine Birne mit ins Grab.“
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,
Trugen von Ribbeck sie hinaus,
Alte Bauern und Büdner mit Feiergesicht
Sangen „Jesus meine Zuversicht“,
Und die Kinder klagten, das Herze schwer.
„He is dod nu. Wer giwt uns nu `ne Beer?“
So klagten die Kinder. Das war nicht recht –
Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht,
Der neue freilich, der knausert und spart,
Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.
Aber der alte vorahnend schon
Und voll Mißtraun gegen den eigenen Sohn,
Der wusste genau, was damals er tat,
Als um eine Birn’ ins Grab er bat,
Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus
Ein Birnbaumsprössling sprosst heraus.
Und die Jahre gingen wohl auf und ab,
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
Und in der Goldenen Herbsteszeit
Leuchtet’s wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung’ übern Kirchhof her,
So flüstert’s im Baume: „Wiste `ne Beer?“
Und kommt ein Mädel, so flüstert’s: „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew’ di `ne Birn.“
So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
Theodor Fontane (1819-1898)